headerbild
Logo RefBeJuSo

Zu Gast im irdischen Paradies der Toten

Auf dem Thuner Stadtfriedhof verschmelzen Gartengestaltung und Grabsteinkunst zu einem organischen Ganzen, in dem es viel zu entdecken gibt.

Ein Nachmittag Anfang Mai. Über den nahen Bergen brauen sich Gewitterwolken zusammen. Hier jedoch, in der Grünanlage, scheint milde die Frühlingssonne. Blühende Sträucher duften balsamisch. Ab und zu setzt ein Windstoss von den Fichten Blütenstaubwolken frei. Ein Friedhof ist oftmals nicht einfach ein Friedhof. Grössere Ortschaften unterhalten Anlagen, die kleine Gesamtkunstwerke sind in Gartenbau, Steinhauerei sowie Architektur, auch Oasen der inneren Einkehr. Hier lässt es sich spazieren, sinnen, den Vögeln lauschen. Beispiel für ein besonders schönes Areal ist der Stadtfriedhof Thun. In ihm ist trefflich erlebbar, was Friedhöfe zu idyllischen Orten macht.

Die Platanen waren zuerst da

Beim Südeingang wartet Ulrich Tschanz, Leiter Friedhofunterhalt der Stadt Thun. «Dieser Friedhof ist ein Park mit vielfältigen gestalterischen Aspekten, die im Lauf der Zeit gewachsen sind», bestätigt er die ersten Eindrücke des Besuchers. Er deutet auf die Platanenallee, die den Park der Länge nach durchzieht. «Die Allee bestand bereits vor dem Friedhof. Dieser wurde um sie herum erbaut, als man ihn 1873 von der Kirche hierher verlegte.» Majestätisch flankieren die Parkbäume den Fussweg. Am Ende müsste eigentlich ein Landschloss oder zumindest eine Villa stehen. Hier ist es jedoch ein kleines, klassizistisch gestaltetes Gebäude aus Sandstein. Eine ehemalige Aufbahrungshalle? Ulrich Tschanz verneint. «Das ist ein Mausoleum.» Errichten liess es zu Zeiten Napoleons der französische Diplomat Graf Joseph Henri Edgar Siméon für seine erste Ehefrau. Ursprünglich stand der Bau in Bern, wurde aber nach Aufhebung des Monbijou-Friedhofs nach Thun verlegt. «Besonders die Friedhöfe grösserer Ortschaften haben immer auch in historischer Hinsicht etwas zu bieten», sagt Tschanz.

Beidseits der Allee durchzieht ein Netz aus weiteren Wegen und Pfaden den Friedhof. Wer sie betritt, erlebt auf engem Raum nach jedem zehnten Schritt immer wieder neue Aspekte des Parks, neue Gruppierungen von Sträuchern, Büschen und Bäumen. Man fühlt sich an einen englischen, manchmal sogar ein wenig an einen fernöstlichen Landschaftsgarten erinnert. Ein japanischer Kirschbaum hat Blüten geregnet, die sich wie rosa Schnee auf dem Gras ausbreiten. «In Japan werden die Menschen sehr emotional, wenn es im Frühling Kirschblüten regnet. Vor ihrem buddhistischen Hintergrund erinnert es sie an die kurze Dauer alles Schönen», sagt Ulrich Tschanz, der das Inselreich zweimal besucht hat. Auf dem Thuner Stadtfriedhof sind die Gräber nicht das alles dominierende Element. Vielmehr sind sie ein organisch wirkender Teil der Anlage, eng mit ihr verwoben. Alte Bestattungsformen treffen auf neue: Hier das Grab mit dem klassischen Stein, dort die Themengräber mit ihren diskreten Namensstelen und dekorativ bepflanzten Partien. Und dann schliesslich das neue Gemeinschaftsgrab, das hinter der südländisch anmutenden Abdankungshalle als Rasenkreis angelegt ist.

Die Stimme vom Himmel

Der alten Friedhofmauer entlang stehen ältere und neuere Familiengräber. Genuss bereitet es, die meisterlich gravierten Namenszüge und Zahlen zu bewundern. Und anregend ist es, sein Bibelwissen zu testen: Was bedeutet der eingemeisselte Code «Offenb 14,13» im Wortlaut? Das Handy hilft zuverlässig. Besagte Bibelstelle verkündet: «Und ich hörte eine Stimme vom Himmel rufen: Schreib: Selig die Toten, die im Herrn sterben von jetzt an!». Seltsamer Zufall: Gerade in dem Augenblick ertönt tatsächlich eine «Stimme vom Himmel» – ein erstes Grollen aus der Gewitterzelle über den Bergen. Dann wieder das Zwitschern der Vögel wie akustische Farbtupfer in der Ruhe des Friedhofnachmittags.

Quelle: reformiert.info, 23. Mai 2022, Hans Herrmann