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«Das Leben ist ein Geschenk»

Symbole aller Art zieren die Strassenränder: Kerzen, Blumen, Stofftiere. Eine solche Gedenkstelle befindet sich zwischen Interlaken und Thun beim Krattiggraben.

Auf der A 8 von Interlaken Richtung Thun kurz nach dem Restaurant Lido fällt ein Platz oberhalb der Strasse besonders auf: Grabkerzen stehen dort, Blumen und andere Pflanzen spriessen, Herzen und Steine und Sterne sind platziert. Seit bald 15 Jahren brennen hier Kerzen und erleuchten die Dunkelheit. An dieser Stelle verlor Remo Harder am 31. Dezember 2003 sein Leben.

«Was ist passiert? Ist Remo eingeklemmt?»

Sein Vater Daniel Harder erinnert sich genau an jenen Silvestermorgen: «Kurz vor 4 Uhr morgens klingelte das Telefon», sagt er. «Der Einsatzleiter informierte mich, dass es nicht gut aussehe und wir doch so schnell als möglich zum Krattiggraben kommen sollen.» Bei Schneetreiben erschien der Weg von Grindelwald zur Unfallstelle unendlich lang. Sie wussten, dass der Sohn mit dem Auto unterwegs war. Gedanken schossen durch den Kopf: «Was ist passiert? Ist Remo eingeklemmt, sind andere Menschen involviert, ist die Feuerwehr oder die Rega vor Ort?» Der Vater, selber im Rettungswesen tätig, erinnerte sich an Unfälle, die genau an dieser Stelle passiert sind. «Wie oft haben wir als Familie über solche Ereignisse gesprochen.» Er wollte gar nicht daran denken, wie es wohl wäre, einen nahestehenden Menschen zu verlieren.

«Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht»

«Es war sehr still auf der Strasse, der Leissigtunnel war gesperrt.» Keine Positionslichter eines Rettungshelikopters oder der Feuerwehr waren zu sehen. «Wir hofften, dass Remo vielleicht bereits ins Spital verlegt wurde.» Beim Unfallort angekommen, blickten sie in die Gesichter der Rettungssanitäter, «da schwand jede Hoffnung». Die Sanitäter nahmen die Eltern in die Arme, «ein unvorstellbarer Moment», sagen die beiden rückblickend. «Remo lag mitten auf der Strasse, er war mit einer Decke zugedeckt, die mir durch die vielen Rettungseinsätze sehr bekannt war. Diese wegzunehmen und in das Gesicht seines geliebten Kindes zu sehen, ist unfassbar.» Die Eltern nahmen Remo in die Arme. «Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht.» Sie weinten und sagten ihm, wie sehr sie ihn liebten. Daniel Harder sagt rückblickend, dass sie Remo in diesem Moment ganz bewusst und mit grosser Hoffnung auf ein Wiedersehen losgelassen hätten. «Später spürten wir eine innere Ruhe und eine Dankbarkeit, dass wir 20 Jahre lang die Eltern von einem so tollen, fröhlichen jungen Mann sein durften.» Wie durch ein Wunder war der beste Freund von Remo nur leicht verletzt und bereits mit der Ambulanz ins Spital gefahren worden. Nach dem Besuch der Unfallstelle fragten sich die Eltern: «Wie sagen wir es den Kindern Marco und Andrea?» Mutter Ursula Harder informierte Sohn Marco, dass sein Bruder bei einem Unfall ums Leben kam. «Für ihn brach eine Welt zusammen», erinnert sie sich. An der Unfallstelle versuchte Daniel Harder, seine Tochter Andrea telefonisch zu erreichen, die zu dieser Zeit in Kalifornien lebte.

«Der Hund verhielt sich komisch»

Andrea Harder erinnert sich präzise an diesen Abend. «Es war etwa 20 Uhr, mein Hund verhielt sich komisch und liess mich nicht aus den Augen.» Sie fragte sich, ob es ein Erdbeben geben würde und der Hund das spürte. Als das Telefon klingelte und sie die Stimme von ihrem Vater hörte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. «Wenn ich meine Augen schliesse, höre ich seine Worte», sagt sie. «Er sagte mir: ‹Ändy, Remo hatte einen Unfall. Er ist gestorben. Er liegt neben mir.›» «Eine Welt ist für mich zusammengebrochen», sagt Andrea. «Remo stand mir so nah, ich vermisste ihn so sehr.» Sie erinnert sich, dass sie an Weihnachten vor dem Unfall schlechten Telefonempfang gehabt hätten, «wir wollten uns noch so vieles erzählen». Im Januar wäre Remo in die USA gereist.

«Ich wollte es einfach nicht glauben»

«Ich wollte es einfach nicht glauben und dachte, es sei ein böser Traum. Ich versuchte sicher 100-mal, Remo auf dem Handy zu erreichen.» Sie reiste unverzüglich in die Schweiz. Als sie ankam und ihren Bruder Marco und die Eltern so traurig sah, sei ihr immer noch nicht bewusst gewesen, was passiert ist. «Erst als ich Remo in der Aufbahrungshalle im Sarg liegen sah, wurde mir klar, dass mein über alles geliebter Bruder mich jetzt nicht in seine starken Arme nehmen würde. Wie sehr wünsche ich mir, dass ich das noch einmal erleben dürfte.»

«Ich fühlte mich am Unfallort nicht wohl»

Rund anderthalb Jahre später kehrte sie wieder in die Schweiz zurück. «Ich bin danach viele Jahre am rechten Thunersee-Ufer durch die Beatenbucht nach Thun gefahren, ich fühlte mich am Unfallort nicht wohl.» Es gäbe heute jedoch keine einzige Fahrt, in der sie nicht mit Remo spreche, wenn sie am Krattiggraben vorbeifahre. «Remo vermisse ich sehr, und die Zeit, die seither vergangen ist, hat daran nichts geändert.» Remos Bruder Marco hat die Unfallstelle beim Krattig­graben zu einem Gedenkort gemacht, um so den Verlust seines Bruders zu verarbeiten. Ganz am Anfang stand dort ein Snowboard, das Marco kreierte und an den begeisterten Sportler erinnerte. Marco erstellte auch eine Website, die heute noch aufrufbar ist. Denn Remo hatte einen grossen Freundeskreis, die Trauer war auch da riesig. Zwischenzeitlich baten die Behörden darum, sich nicht in zu grosser Zahl an der Unfallstelle aufzuhalten – um sich und andere nicht zu gefährden. Die Mutter von Remo kümmert sich seit nun fast 15 Jahren um die Unfallstelle, aber auch das Grab in Grindelwald.

«Wir haben einen Baum gepflanzt»

Auch heute noch steht manchmal eine frische Kerze auf dem Grab oder ein neues Steinmandli. «Das zaubert uns immer ein Lächeln aufs Gesicht», sagen die Hinterbliebenen. Erinnerung gibt es auch im Alphüttli in Grindelwald, das Remo liebte. «Dort ist er uns ganz nah», sagt Andrea. Der Vater ergänzt: «Dort haben wir für ihn auch einen Baum gepflanzt, den er von seinem Götti zu seiner Beerdigung erhalten hat und jetzt prächtig gedeiht.» «Das Leben ist ein Geschenk», sagt Daniel Harder, «denken wir doch daran, wenn uns ein flackerndes Licht am Strassenrand auffällt.»

Quelle: Berner Oberländer, 01.09.2018, Fritz Lehmann