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Ringen um die Seelsorge: Neu berücksichtigen die Reformierten sogar die Gottlosen

Das neue System, wie die reformierte Berner Kirche ihre Pfarrstellen verteilen will, sorgt für Unmut – vor allem auf dem Land.

Es ist vermutlich ähnlich komplex wie ein SBB-Fahrplan: die neue Aufteilung der Pfarrstellen auf die 217 reformierten Kirchgemeinden im Kanton Bern ab 2026. Es gibt lediglich noch 272 Stellen zu verteilen. Weil die Lohnkosten steigen, aber nicht mehr Geld zur Verfügung steht, sind das gut zwei Dutzend weniger als bisher. Nun hat die Kirchenleitung einen Vorschlag ausgearbeitet – und muss ziemlich viel Kritik einstecken. In erster Linie vom Pfarrverein. Dieser schreibt, der Gesamttenor lasse sich «als kritisch bis ablehnend» zusammenfassen. Vor allem ländliche Gemeinden fühlten sich benachteiligt. Der Synodalrat, die Exekutive der reformierten Landeskirche des Kantons Bern, hat in der Tat neue Wege beschritten, um die Stellen zu verteilen. Besonders umstritten ist die Neuerung, dabei nicht mehr hauptsächlich auf die Mitgliederzahlen der Kirchgemeinden zu achten. Bisher erhält eine Kirchgemeinde für 24 Mitglieder ein Pfarrstellenprozent. Zählt eine Gemeinde 2400 Mitglieder, hat sie somit eine «ganze» Pfarrperson auf sicher. Dazu kommen weitere Kriterien wie die Anzahl Kirchengebäude oder die Bevölkerungsdichte.

Umstrittenes Kriterium

Neu ist nun, dass die eigentlichen Kirchenmitglieder weniger gewichtet werden – ein Stellenprozent gibt es künftig für 32 Mitglieder. Zudem – das ist der springende Punkt – fliesst die gesamte Wohnbevölkerung einer Kirchgemeinde in die Berechnung ein: Für 200 Einwohnerinnen und Einwohner gibt es ebenfalls ein Prozent.
Es zählen somit auch Andersgläubige und sogar Ungläubige. Ins Extreme gedacht: Für 20'000 Katholiken gibt es eine reformierte Pfarrstelle. Der Synodalrat begründet diese Neuerung mit dem Selbstverständnis der reformierten Kirche als Volkskirche. Deren Handeln orientiere sich nicht allein an den Mitgliedern, «sondern ebenso am Ganzen der Gesellschaft».

Da sein für alle

Für ihre «Leistungen im gesamtgesellschaftlichen Interesse» werden die drei Landeskirchen – die reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische – vom Kanton direkt aus der Staatskasse entschädigt. Es sind insgesamt knapp 30 Millionen Franken jährlich; der grösste Teil geht an die Reformierten. Weitere 43 Millionen Franken erhalten die drei Kirchen für die Löhne der Pfarrerschaft. Dies hängt mit historischen Verpflichtungen zusammen. Das Selbstverständnis der Reformierten, eine Volkskirche zu sein, kommt nicht von ungefähr: Noch in den 1970er-Jahren waren im Bernbiet durchs Band weg 80 bis weit über 90 Prozent der Menschen reformiert. Diese Traum-Quoten sind seither dramatisch eingebrochen. Allein in den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil der Reformierten im Kanton Bern von 56,4 auf 46,1 Prozent verringert. Im Gegenzug bilden die Konfessionsfreien inzwischen mit 26,2 Prozent die zweitstärkste Gruppe. In kirchlichen Kreisen ist die Rede von einem massiven Traditionsabbruch.

Kirchgemeinde Wattenwil kann Abwärtstrend aufhalten

Vor diesem Hintergrund muss der Synodalrat ein besonderes Problem im Blick behalten: In städtischen Gebieten verläuft der Rückgang der Mitgliederzahlen schneller als auf dem Land. Zwei Beispiele: In der Stadt Bern hat die Zahl der Reformierten seit 2017 von 49’779 auf 42’730 abgenommen (minus 14 Prozent). Im emmentalischen Lützelflüh beträgt der Rückgang lediglich 3,2 Prozent. Gemeinden, die sich aus kirchlicher Sicht positiv entwickeln, gibt es nur wenige: Wattenwil ist eine von ihnen. Eine aktive Kirchgemeinde, aber auch eine rege Bautätigkeit mit entsprechend vielen Zugezogenen vermögen den Abwärtstrend dort aufzuhalten. Umgekehrt dürften grosse Verluste in abgelegenen Gemeinden wie Saxeten kaum allein auf Kirchenaustritte zurückzuführen sein, sondern auf die Abwanderung. Vor allem das schnelle Schrumpfen in den Zentren beunruhigt den Synodalrat. Blieben in dieser Situation allein die Mitgliederzahlen ausschlaggebend für die Pfarrstellenprozente, würden städtische Kirchgemeinden rasch ausbluten. Für den Synodalrat steht aber fest, dass in solchen Gemeinden der Bedarf an gesellschaftlichen Leistungen trotz sinkender Mitgliederzahlen bestehen bleibt – oder gar zunimmt. Mit dem neuen Berechnungssystem soll dies berücksichtigt werden. Der Grundsatz laute: «Besser viele verlieren wenig als wenige viel.» Dieser Ansatz kommt auf dem Land nicht gut an. Für einen grossen Teil der ländlichen und kleinen Kirchgemeinden befürchtet der Pfarrverein Stelleneinbussen von 10 bis 30 Prozent. Der Pfarrerberuf werde dadurch zusätzlich an Attraktivität einbüssen.

«Abgeschwächte Bevorzugung»

Die Kirchenleitung sieht das anders und relativiert das Ausmass der befürchteten Stellenreduktionen. Da die letzte Überprüfung der Pfarrstellen länger zurückliege als üblich, lebten einige Kirchgemeinden «beim Pfarrpersonal quasi auf zu grossem Fuss», heisst es in einer Stellungnahme. Wenn es in solchen Gemeinden schliesslich zu Kürzungen komme, habe dies somit nur teilweise mit der neuen Zuteilung zu tun. Überhaupt würden die kleinen, ländlichen Kirchgemeinden «weiterhin deutlich mehr Pfarrstellen pro Mitglied erhalten als die grossen Kirchgemeinden». Statt im neuen System eine starke Benachteiligung zu sehen, wäre es gemäss Kirchenleitung deshalb zutreffender, «von einer etwas abgeschwächten Bevorzugung» zu sprechen.

Quelle: www.thunertagblatt.ch, Dölf Barben, 24.03.2023