Bei uns nicht. Diese nachvollziehbare Reaktion auf Meldungen zu Missbrauch in kirchlichen Institutionen ist bereits durch die Beschwerde gegen den ehemaligen Präsidenten der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) herausgefordert worden. Schon damals musste anerkannt werden, dass auch die reformierte Kirche nicht gefeit ist vor Übergriffen. Dass sich ein System etablieren kann, in dem Fehlverhalten nicht geahndet wird. Die Untersuchungskommission konnte dies in ihrem Bericht zeigen. Also auch bei uns. Nicht nur bei der katholischen Kirche oder den Freikirchen. Die Überzeugung, dass die reformierte Kirche durch ihre Struktur und ihre offenere Sexualmoral Übergriffen keine Chance gibt, erhielt Risse: Machtgefüge und Überhöhungen von Positionen gibt es auch bei uns. In den vergangenen Jahren wurde viel getan. Es wurde erstmalig oder weiter an Präventions- und Interventionskonzepten gearbeitet. Das Bemühen um Kirche als «safer space» ist erkennbar und das Anliegen wird von den Allermeisten klar mitgetragen. Und doch. Als die Pilotstudie der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz im vergangenen September veröffentlicht wurde, betonten etliche die ganz unterschiedlichen Ausgangslagen und Betroffenheiten. Die Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), vorgestellt Ende Januar 2024, entzieht dieser Hoffnung endgültig den Grund. Sie zeigt auf, wie sich gerade evangelische Spezifika in Theologie und Struktur bemerkbar machen. Das betrifft sowohl die Übergriffe selbst wie auch deren Aufarbeitung.
Genau hinhören – und hinschauen
Zum Glück ist nach der Präsentation der Studie kaum ein «Aber bei uns doch nicht» zu hören. Es ist von Erschütterung die Rede. Von Schmerz, wenn zur Kenntnis genommen werden muss, dass das Pfarrhaus ein zentraler Ort für Übergriffe ist. Und es stellt sich die dringliche Frage, welche Erkenntnisse der Studie auf die reformierte Kirche in der Schweiz übertagen werden können. Das Anliegen, genau hinzuschauen, wird ebenfalls geäussert. Dieses Anliegen teilen die Evangelischen Frauen Schweiz (EFS). Genau hinzuschauen und vor allem: genau hinzuhören, was Betroffene berichten. Ihre Erfahrungen sollen ernst genommen werden. Die Botschaft muss glasklar sein: Die Betroffenen tragen keine Verantwortung für das, was ihnen angetan wurde. Auch erwachsene Betroffene nicht. Dieser Grundsatz ist zentral und kann nicht oft genug wiederholt werden, damit Menschen, die Übergriffe erfahren, den Mut finden, sich an eine Meldestelle zu wenden und von dem Unrecht zu berichten. Auch, damit es auf lange Sicht diesen Mut nicht mehr braucht, sondern einzig die entsprechenden Adressen.
«Me too» war und ist diesbezüglich ein wichtiger Einschnitt. Berichte von Übergriffen werden nicht mehr einfach abgetan als eine private Sache, die halt zum System dazugehört. Die Einsicht, dass Verletzungen der Integrität eines Menschen niemals und nirgends Legitimation finden, wächst mehr oder weniger rasch. Insbesondere gewinnt die Einsicht an Boden, dass es auch unter erwachsenen Menschen Situationen gibt, die Übergriffe begünstigen. Dass es Machtgefälle gibt, die Grenzen langsam, aber stetig verschieben. Die Dynamik von spirituellem Missbrauch wurde verschiedentlich aufgezeigt, in den Kirchen ist sie meist ein wichtiger Faktor für diese Grenzverschiebungen in perfidester Weise. So wird zum Beispiel eigenes Täterhandeln mit göttlichem Willen überhöht und ein Nein gegenüber dem Täter zum Nein gegenüber Gott umgedeutet. Missbrauch und Übergriffe im kirchlichen Kontext verletzen Betroffene daher zusätzlich in ihrer spirituellen Integrität. Sie wiegen schwer.
Harmoniebedürftigkeit als Problem
Eine der zentralen Forderungen aus der EKD-Studie ist denn auch die Verankerung von Modulen zu Sexualität, Geschlecht und Macht in der Aus- und Weiterbildung von Pfarrpersonen, aber auch weiteren Mitarbeitenden. Es muss allen, die in der Kirche tätig sind – im bezahlten, freiwilligen und ehrenamtlichen Engagement – bewusst sein, dass sie Verantwortung tragen für die Beziehungen, die im kirchlichen Rahmen entstehen und existieren. Dass ihre Worte, Gesten oder Berührungen Bedeutung haben – in alle Richtungen. Dafür muss eine Besprechbarkeit geschaffen werden, eine Sprache, ein Raum für kollegialen Austausch. Irritationen sollen zeitnah und offen benannt werden können, mögliche Missverständnisse geklärt und Schwierigkeiten dezidiert angegangen. Es braucht dafür auch einen Kulturwandel im Umgang mit Konflikten und Unstimmigkeiten. Die Harmoniebedürftigkeit im kirchlichen Milieu, die im Wunsch nach schnellem Vergeben ihre theologische Zuspitzung findet, ist wie das Pfarrbild eines dieser evangelischen Spezifika, die aus der Studie hervorgehen. Diese gilt es anzupacken. Eine machtkritische und geschlechtergerechte Kirche fordern die EFS schon lange. Die reformierte Kirche, die sich als hierarchiekritisch und (selbst)reflexiv versteht, sollte dies nun selbstbewusst anstreben. Eine Studie kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Ebenso ist die Tagung der Frauen- und Genderkonferenz als Ort des offenen Austausches von Bedeutung.
Zuversichtlich in die Zukunft
Diese Arbeit fordert die Kirche heraus. Und es ist verständlich, dass sie Unsicherheit und Ängste auslöst, ein Gefühl der Überforderung in der sowieso schon anspruchsvollen Situation. Doch genau jetzt braucht es dieses genaue Hinschauen und Hinhören. So kann die Studie der EKD tatsächlich ein Weckruf für die reformierten Kirchen sein: Eine Erinnerung daran sich der eigenen Bestimmung gemäss aus Strukturen zu befreien, die destruktiv sind und Menschen entmündigen. Wenn diese Transformation gelingt, offen, transparent und suchend, dann gewinnt unsere Kirche an Glaubwürdigkeit und an Strahlkraft. Ich bin zuversichtlich.
Gabriela Allemann ist reformierte Pfarrerin, Präsidentin der Evangelischen Frauen Schweiz (EFS) sowie Mitglied des Leitungsausschusses der Frauen- und Genderkonferenz. In dieser Funktion nimmt sie unter anderem an Synoden der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) teil. Zudem gehörte sie der Untersuchungskommission an, die 2020 und 2021 die Vorwürfe gegen Gottfried Locher prüfte.
Quelle: www.ref.ch, Gabriela Allemann, 11. März 2024