Fokus 07/2021
«Helvetia predigt» - 50 Jahre Schweizer Frauenstimmrecht
Mit der ökumenischen Aktion «Helvetia predigt!» rufen schweizweit Frauen aus der Kirche reformierte Kirchgemeinden, christkatholische und katholische Pfarreien dazu auf, die Sonntagspredigt am 1. August Frauen zu übertragen. In diesem Jahr steht neben dem Nationalfeiertag auch die Feier zum 50-Jahr-Jubiläum des Frauenstimmrechts im Zentrum. In Luzern werden die reformierte Synodalratspräsidentin Lilian Bachmann und die SP-Kantonsrätin Ylfete Fanaj in der Lukaskirche das Wort ergreifen. Ref.ch hat die beiden Frauen interviewt.
Interview: Andreas Bättig, ref.ch
Ref.ch: Frau Bachmann und Frau Fanaj, in rund zwei Wochen haben Sie Ihren Einstand als Gottesdienst-Predigerinnen. Wissen Sie bereits, was Sie sagen werden?
Bachmann: Meine Predigt wird sich an die Figur der Helvetia anlehnen. Für das was sie steht, nämlich Gleichberechtigung und Chancengleichheit. Alle Menschen sollen über die gleichen Rechte und Chancen verfügen. Wie es uns als Gesellschaft gelingt, alle Stimmen zu hören und damit eine inklusive Zukunft zu gestalten. Ein Appell also, sich für all jene stark zu machen, die mit Ungleichheit konfrontiert sind. Denn das sind unsere christlichen Werte und somit auch der Auftrag der Kirche.
Fanaj: Ich werde über das Frauenstimmrecht als eine wichtige Errungenschaft sprechen, damit Frauen auch in der Politik gehört werden. Von diesem Punkt aus gehe ich weiter und verweise darauf, dass noch immer viele Menschen nicht ausreichend mitbestimmen können. Seien dies Menschen mit einer geistigen Behinderung, Migrantinnen und Migranten oder auch Jugendliche. Sie alle sind wie wir Frauen Teil unserer Gesellschaft und haben das Bedürfnis, sich politisch Gehör für die Anliegen zu verschaffen.
Die Aktion «Helvetia predigt!» erinnert auch daran, dass in der Schweiz vor 50 Jahren das Frauenstimmrecht und somit die politische Teilhabe erkämpft wurde. Sie beide sind in verantwortungsvollen gesellschaftlichen Positionen tätig. Was ist Ihr Rat an junge Frauen, um ebenfalls dorthin zu gelangen?
Bachmann: Dass sie Chancen nutzen sollen, wenn sich diese ergeben. Ich wurde sehr früh Richterin, mit 29. Natürlich war das mit viel Arbeit und Fleiss verbunden. Aber es war auch der Tatsache geschuldet, dass ich durch die Tür, die unverhofft aufging, hindurch schritt – und dies mit einer gewissen Entschiedenheit. Also den Mut haben, zu sagen: Ja, ich werde Richterin und habe gleichzeitig drei Kinder. Darum ist es mir auch ein Anliegen, anderen Frauen Mut zu machen: Ergreift Verantwortung, gestaltet die Zukunft mit und seid ein Vorbild für die nächste Generation Frauen!
Fanaj: In meinem Jahr als Luzerner Kantonsratspräsidentin wurde ich von vielen jungen Frauen auf mein Amt angesprochen. Insbesondere auch von Secondas. Sie waren überrascht, dass man in meinem Alter und vor allem mit meinem Hintergrund eine solche Position erreichen kann. Sie hatten in ihrem Kopf das Bild von einem älteren Mann, der Präsident ist. Darum ist es so wichtig, dass wir diese Bilder in den Köpfen junger Frauen korrigieren. Frauen in Ämtern, sei es als Synodalratspräsidentin oder Kantonsrätin, müsse sich sichtbar machen. Nur so kommen nach uns weitere Frauen nach.
Mussten Sie als Frauen mehr leisten, um an Ihre Positionen zu kommen?
Bachmann: Jede und jeder muss hart arbeiten und die eine oder andere Extrameile laufen, um ans Ziel zu kommen.
Fanaj: Nicht weil ich eine Frau bin. Aber aufgrund meines Migrationshintergrundes und meines Namens musste ich mehr Hürden nehmen als andere. So war es für mich schwieriger, eine Lehrstelle zu finden, obwohl ich sehr gute Noten hatte. Diese Erfahrung hat mich geprägt. Nicht aufgeben und dran bleiben ist wichtig.
Frau Bachmann, nur wenige Frauen stehen an der Spitze der 24 reformierten Landeskirchen in der Schweiz. Die Diskussionen innerhalb der Kirche über Geschlechter zeigen offenbar noch keine grossen Auswirkungen.
Bachmann: Sie vergessen, dass mit Rita Famos eine Frau an der Spitze der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz steht. Es ist aber klar: Ich würde mir mehr Frauen an den wichtigen Schaltstellen innerhalb der Kirche wünschen. Doch dafür braucht es wie bereits erwähnt Vorbilder. Wir müssen Frauen in solchen Führungspositionen «sehen». Das ist auch mit ein Grund, weshalb ich als Syodalratspräsidentin in Konfirmandinnen-Klassen gehe und junge Frauen ermutige, Führungspositionen anzustreben.
Ein Blick in die Zukunft: Wo wird die Gesellschaft in Sachen Gleichberechtigung in 50 Jahren stehen?
Fanaj: Geht es im bisherigen Tempo weiter, dann werden wir die Gleichstellung von Mann und Frau in etwa hundert Jahren erleben. Darum: Es muss schneller vorwärts gehen. Natürlich wurde in den letzten fünf Jahrzehnten viel erreicht, aber wir starteten auch von einem sehr tiefen Niveau. Sehr dringlich ist es, die Rahmenbedingungen der Care-Arbeit, die noch immer meistens von Frauen geleistet wird, anzugehen. Hier benötigen wir ein flächendeckendes Angebot an Tagesschulen. Ebenso einen Elternurlaub...
Bachmann: ... und endlich Lohngleichheit, ohne Wenn und Aber. Auch muss es möglich sein, dass beide Elternteile zu 100 Prozent arbeiten können. Die Rahmenbedingungen dafür müssen Staat und Wirtschaft leisten, ebenso die Kirche. Mehr noch: Die Kirche kann bei solchen Themen eine Vorreiterrolle einnehmen und entsprechende Anstellungsbedingungen schaffen.
Beispielsweise?
Bachmann: Im Personalgesetz der Reformierten Kirche im Kanton Luzern hatten wir den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub bereits verankert, als dieser national noch gar nicht eingeführt wurde. Oder nehmen wir die Frauenordination: In der reformierten Kirche eine Selbstverständlichkeit, in der katholischen Kirche bis heute undenkbar.
Ist die Kirche der richtige Ort, um für diese Anliegen zu kämpfen?
Fanaj: Die Kirche darf nicht parteipolitisch sein, aber gesellschaftliche Themen sind immer politisch – und gerade deshalb kann sie nicht unpolitisch sein. Die Kirche als Gemeinschaft unterschiedlichster Menschen ist Teil der Gesellschaft, deshalb muss sie auch politisch aus ihrer Position heraus am Dialog überall dort teilnehmen können, wo ihre Werte betroffen sind.
Bachmann: Die Luzerner Landeskirche hat für die Ausarbeitung der neuen Kirchenordnung eine öffentliche Grossgruppenkonferenz veranstaltet, bei der rund 250 Menschen mit verschiedenen Hintergründen diskutiert haben, was Kirche leisten soll. Die gesellschaftspolitische Beteiligung kam deutlich hervor. Es braucht den Dialog über unsere Werte. Hierzu bringt die Kirche ihre Stimme ein und darf durchaus kritisch aus unterschiedlichen Blickwinkeln hinterfragen. Dabei macht sie keine Politik oder fasst Parolen, sondern ist ein Ort, wo sich unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Meinungen treffen.
Zurück zur Aktion «Helvetia Predigt!». Sie beide predigen in der Regel nicht. Trotzdem werden Sie am 1. August im Gottesdienst der Lukaskirche über Ihre Anliegen sprechen. Was hat Sie gereizt, da mitzumachen?
Fanaj: Das hat verschiedene Ursachen. Ich habe in meinem Leben als Politikerin schon viele Reden gehalten, noch nie aber in einer Kirche. Aber da gibt es noch einen anderen Grund, der mir sehr am Herzen liegt: Die Kirche, respektive alle Religionsgemeinschaften, sind wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser Aspekt geht in unserer Gesellschaft manchmal vergessen. Zudem sind Seelsorge, Gassenarbeit oder die Unterstützung im Asylwesen wichtige Ergänzungen zu den staatlichen Leistungen. Aber auch als Präsidentin von «50 Jahre Frauenstimmrecht im Kanton Luzern» war für mich klar, dass ich da mitmachen will.
Bachmann: Die Kirche ist ein Abbild unserer diversen Gesellschaft und wird gehört. Gemeinsam mit den Menschen, die sie mitgestalten, bildet sie eine Gemeinschaft, die wahrgenommen wird. Dies gelingt über den gemeinsamen Dialog. Das war auch der Grund, weshalb die Luzerner Landeskirche für die neue Kirchenordnung eine öffentliche Konferenz veranstaltete, an der Menschen mit verschiedenen Hintergründen mitreden konnte, was Kirche überhaupt leisten soll. Diese Vielstimmigkeit soll auch am 1. August schweizweit erklingen.
Frau Bachmann, zu Beginn des Gesprächs sprachen Sie davon, dass alle Menschen die gleichen Rechte erhalten sollen. Ende September stimmt die Schweiz über die «Ehe für alle» ab. Wie denken Sie als Vertreterin der Kirche über die Öffnung der Ehe?
Bachmann: Diese Abstimmung gibt uns die Möglichkeiten, einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung Gleichstellung, Chancengleichheit, Akzeptanz, Toleranz und Nächstenliebe zu machen. Alles Werte, für welche die Reformierte Kirche einsteht. Mit «Helvetia predigt!» wird ein weiteres Zeichen gesetzt, dass viele Helvetias überall im Lande das Wort ergreifen und eine Stimme haben. Neben den Frauen müssen aber auch die Stimmen der Untervertretenen in unserer Gesellschaft, wie beispielsweise junge Menschen, gehört werden. Für diese Vielstimmigkeit stehen wir Frauen am 1. August im ganzen Land ein.
Fanaj: Im Zusammenhang mit der «Ehe für alle» noch eine Anmerkung: Es geht darum, dass alle die gleichen Rechte erhalten. Dafür setze ich mich ein und das werde ich auch in meiner Predigt am 1. August sehr deutlich sagen.
Lilian Bachmann, 49, ist seit vergangenem November Präsidentin des Synodalrats der Evangelisch-Reformierten Landeskirche des Kantons Luzern, zudem ist sie Delegierte für die Schweizerische Frauenkonferenz der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz. Die promovierte Juristin mit Anwaltspatent amtete während 20 Jahren als Richterin an unterschiedlichen Gerichten in Luzern und ist heute als selbstständige Rechtsanwältin tätig. Bachmann ist verheiratet und Mutter dreier Kinder.
Ylfete Fanaj, 39, ist SP-Kantonsrätin im Kanton Luzern und amtete ab Juli 2020 für ein Jahr als Luzerner Kantonsratspräsidentin. Die kosovarisch-schweizerische Doppelbürgerin hat nach der Berufsmaturität Soziale Arbeit studiert und arbeitet heute als Bereichsleiterin für die Deutschschweiz beim Jugendprojekt LIFT in Bern, einem Integrations- und Präventionsprogramm für Jugendliche mit erschwerender Ausgangslage an der Nahtstelle zwischen Schule und Beruf. Fanaj ist verheiratet und Mutter eines Kindes.
Quellen: ref.ch, 18.07.2021; info refbejuso vom 05.07.2021, Redaktion: Stephanie Keller