Fokus 06/2024
Kraftort in Sigriswil: Ein Aussichtsturm als Friedenszeichen
Der Merliger Pfarrer Martin Leuenberger ermuntert zu einer besonderen Wanderung an einen blumigen Ort.
Kennen Sie den Aussichtsturm auf der Blueme? Über die Tannenwipfel hinweg schweift der Blick von den Alpen übers Mittelland bis zum Jura. Und dann diese Ruhe… Weit und breit kein Strassenverkehr. Was im Alltag gross und bedrohlich erscheint, kommt einem hier weit weg und wohltuend klein vor. Es ist ein Ort zum Entschleunigen und Regenerieren, auf 1392 m ü. M. Irgendwie dem Himmel näher. Wo sind sie noch, die Berggipfel, die auf Wanderwegen leicht erreichbar und frei zugänglich sind, nicht kommerziell genutzt werden – und nicht «überlüffe»?
Am 1. August feierten wir in Schwanden ob Sigriswil «40 Jahre Aussichtsturm Blueme». Da gab es vor dem Festgottesdienst einen historischen Rückblick: In früheren Zeiten trug die Blueme einen Holzstoss für das Wachtfeuer – einen «Chutze». In kriegerischen Zeiten stellten die Schwandner rund um die Uhr Wachen. Sobald das Feuer auf dem Belpberg entfacht und gesichtet wurde, wurde hier oben ebenfalls Alarm ausgelöst. Ein Netz solcher Hochwachten überzog den alten Staat Bern vom Genfersee bis in den Aargau. 1798, beim Einmarsch der französischen Truppen, wurde zum letzten Mal auf diese Weise mobilisiert. Wegen der notwendigen Übersichtlichkeit hatte der Wald zuoberst auf der Anhöhe weichen müssen. An seiner Stelle entstand eine blumenreiche Wiese. Daher rühre der schöne Name.
Die Zeit der Alarmierung per Feuersignal ist vorbei. Dennoch ist unsere heutige Welt keine friedliche geworden. Viele Berggipfel auf dieser Welt sind militärisch gesichert und genutzt: als Beobachtungsposten, Sendestationen oder gar als Festungen. Nichts dergleichen finden wir heute auf der Blueme. Ich würde gar behaupten: Einen friedlicheren Ort kann man sich kaum vorstellen. Und einen friedlicheren Namen auch nicht. Als ein Friedensprojekt erachte ich auch die Errichtung des neuen, 16,5 Meter hohen Aussichtsturms im Jahr 1984. Geht es doch bei diesem Turm rein darum, dass wir Menschen die Schönheit der Schöpfung geniessen können. Und erst noch gratis. Dass die elegante Stahlkonstruktion heute dort steht, ist weitgehend der Initiative und Beharrlichkeit des umtriebigen Lehrers Theo Gyger zu verdanken.
Ich möchte das Erlebnis dieses besonderen Ortes – ein «Kraftort» für Körper und Seele – Ihnen allen empfehlen und von Herzen gönnen - und noch vielen anderen Menschen aus nah und fern. Dass er wegen dieses Beitrages überrannt würde, glaube ich kaum. Als Influencer tauge ich wenig, und das «Wort zum Sonntag» hat eine überschaubare Reichweite. Die Blueme bleibt wohl ein Geheimtipp.
Falls Ihnen ein Aufstieg nicht möglich ist, nehmen Sie diese Zeilen einfach als eine gute Nachricht: Gott sei Dank hat auf der Erde noch anderes Platz als Krieg und Profitstreben. Vielleicht kommt Ihnen eine Idee für ein weiteres Friedenszeichen …? Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen und friedlichen Sonntag – vielleicht mit ein wenig Flower Power.
Text- und Bildquelle: www.thunertagblatt.ch vom 18.08.2024 (Text: Martin Leuenberger, Foto: Bruno Petroni)