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Thun: Der Friedhof lebt

Friedhöfe sind die Ruhestätten der Toten. Doch sie werden immer mehr zu Begegnungsorten für die Lebenden. Ein Grund dafür ist die Zunahme von Kremationen.

«Wir haben hier Stammbesucher, nach denen man die Uhr stellen kann», sagt Sascha Franke. Er leitet den Unterhalt der drei Thuner Friedhöfe und kennt die Leute, die den Stadtfriedhof an der Schönaustrasse regelmässig aufsuchen. Da sind zum einen jene, die sich selber um die Gräber ihrer Liebsten kümmern und die Infrastruktur des Friedhofs benutzen, um neue Pflanzen zu setzen und zu giessen. Oft stehen sie da und reden mit dem Verstorbenen. Manche legen auch die Hand auf den Grabstein, der die letzte Verbindung zum Verstorbenen darstellt. Auch Nachbarn aus dem Quartier verweilen oft hier, sitzen auf den Bänken, geniessen die Ruhe, essen zu Mittag oder lesen ein Buch. Aber nicht nur Zwei-, sondern auch Vierbeiner und Geflügelte geniessen die «grüne Lunge der Stadt», wie Bernhard Jenzer, Leiter Friedhof- und Bestattungswesen bei Stadtgrün, der Thuner Stadtgärtnerei, sich ausdrückt: Katzen, Füchse, Marder und Vögel und natürlich die Millionen von Kleinstlebewesen in der Luft, auf und unter dem Boden.

Asche zu Diamanten

Der 1876 in Betrieb genommene Stadtfriedhof musste bereits dreimal erweitert werden, weil Thun gewachsen und die Zahl der Bestattungen damit gestiegen ist. Doch die Platzprobleme gehören der Vergangenheit an. Früher kam eine Kremation auf neun traditionelle Bestattungen. Heute ist es gerade umgekehrt. Im Trend ist zudem, die Asche der Verstorbenen in der Urne mit nach Hause zu nehmen, sie in einen See zu streuen, auf einem Waldfriedhof zu bestatten oder zu Diamanten verarbeiten zulassen. «Wir müssen uns deshalbfragen, wie wir den freien Raum künftig nutzen sollen», sagt Markus Weibel, Leiter Stadtgrün. Die Entwicklung gehe allgemein Richtung Park, ergänzt Bernhard Jenzer. «Friedhöfe werden immer häufiger zu Orten, an denen sich die Leute fast wie in der Natur begegnen, zu Oasen der Ruhe und Entschleunigung von der Hektik des Alltags.» Wichtig ist allerdings, dass Friedhöfe «Stätten der Ruhe und Besinnung» sind und bleiben, wie es in der städtischen Bestattungs- und Friedhofverordnung heisst: «Sie sind dem Zweck entsprechend zu benützen. Insbesondere sind sie nicht Spiel- und Freizeitanlage.» Ein Vorbild für die Gestaltung von zeitgenössischen Friedhöfen ist Walter Glauser, der heuer in Pension gegangene Friedhofpionier der Stadt Bern: Er liess auf dem Bremgartenfriedhof Schafe weiden und bepflanzte Gräber mit einer speziellen Bodenabdeckung, in der Glühwürmchen gediehen und für nächtliche Spektakel sorgten. Auf dem Schosshaldenfriedhof organisierte er sogar gelegentlich Laienkurse im Handmähen – mit der Sense. Auch in Thun gibt es viele Möglichkeiten, das Angebot nach den aktuellen Bedürfnissen zu richten: beispielsweise Gräber für die Angehörigen aller fünf Weltreligionen – zurzeit gibt es sie nur für Christen und Mus­lime.

Feingefühl gefragt


Doch bei aller Zukunftsmusik – die Kernaufgabe des Friedhof­unterhalts ist die Pflege derGräber, Wege und freien Flächen sowie die Organisation von Beisetzungen und Trauerfeiern; eine sensible Aufgabe, da der Kontakt mit den Hinterbliebenen sehr viel Feingefühl verlangt. «Unsere erste Priorität: die Wünsche des Verstorbenen zu respektieren», sagt Bernhard Jenzer. «Aber wir wollen auch, dass die Angehörigen zufrieden sind.» «Sie realisieren manchmal erst nach der Beerdigung, dass sie sich bezüglich der Beisetzungsart falsch entschieden haben», hat Sascha Franke schon oft beobachtet. «Auf den Friedhof zu gehen und zu trauern, ist nicht mehr möglich, wenn ihnen das Grab oder dessen Lage nicht gefällt.» Er nehme sich deshalb sehr viel Zeit, um die Angehörigen zu beraten, betont Franke. Wenn sich der Verstorbene nicht geäussert hat, seien die trauernden Hinterbliebenen bei der Auswahl von Grabstelle und Bestattungsart oft überfordert. «Wenn sie zum Beispiel ein anonymes Gemeinschaftsgrab möchten, mache ich sie darauf aufmerksam, dass diese Entscheidung nicht mehr rückgängig zu machen ist: Denn sie werden nie die Stelle besuchen können, an der die sterblichen Überreste desgeliebten Menschen liegen. Für viele Menschen ist das nämlich enorm wichtig.» Bei der Wahl der Bestattungsweise – zur Auswahl stehen 14 Gräberarten – können auch Konflikte innerhalb der Familien aufbrechen: «Ich habe schon ein paarmal erlebt, dass die Hinterbliebenen sich nicht einigen konnten. Für solche Fälle gibt es keine gesetzliche Regelung», sagt Bernhard Jenzer. «Da ein Leichnam nicht unbegrenzt lange aufbewahrt werden kann, ist man irgendwann gezwungen, weitere Schritte einzuleiten.»

Wenn die Distanz weg ist


Ein weiteres heikles Thema ist die Aufhebung von Gräbern. Wenn die nächsten Angehörigen bekannt sind, werden sie angefragt, ob sie den Grabstein und die Bepflanzung zu sich nehmen möchten. «Manchmal sind uns die Angehörigen aber nicht bekannt. Dann heben wir das Grab auf und geben den Stein in den fachgerechten Entsorgungsprozess. Und eines Tages kommen die Angehörigen auf den Friedhof, suchen vergeblich nach dem Grab und fragen uns, was mit dem Stein passiert ist. Das sind jeweils unschöne Momente», führt Bernhard Jenzer aus. Er und seine Mitarbeiter haben grosse Erfahrung im Umgang mit Trauernden. Aber es gibt Momente, in denen sie die professionelle Distanz verlieren, in denen das Leid der Trauernden sie selber trifft. «Kinderbeerdigungen wühlen auch uns auf, und wir tun, was wir können, um Hinterbliebenen beizustehen», sagt Jenzer. «Beim Grabschmuck gibt es zum Beispiel klare Regelungen, etwa bezüglich der Grösse. Bei Kindergräbern drücken wir aber beide Augen zu.»

Quelle: Thuner Tagblatt, 1. November 2019, Marc Imboden