Frau Aus der Au, wie in anderen reformierten Kantonalkirchen hat man auch im Thurgau mit dem Pfarrmangel zu kämpfen. Wie schlimm ist es?
Momentan können wir den Pfarrmangel noch gut mit pensionierten Pfarrpersonen abfedern. Wir haben derzeit lediglich zwei oder drei Vakanzen. Bei Bewerbungen auf offene Stellen merken wir aber, dass es deutlich weniger Interessenten gibt als noch vor zehn Jahren. In den kommenden Jahren wird sich das Problem verschärfen.
Inwiefern?
Wir haben in unserer Kantonalkirche insgesamt rund 80 Vollzeit-Pfarrstellen. Von den Stelleninhaberinnen wird innerhalb der nächsten zehn Jahre mehr als die Hälfte pensioniert. Hinzu kommt, dass es an Nachwuchs mangelt. Die Zahl der Theologiestudierenden ist in den vergangenen zehn Jahren von mehr als 100 auf knapp 40 zurückgegangen.
In der letzten Synode hat ein Motionär gefordert, die Thurgauer Kirche solle bei der Anerkennung der Ausbildungen zum Pfarramt eigene Wege gehen. Warum stehen Sie einem solchen «Thurgauer Weg» kritisch gegenüber?
Im Kirchenrat sind wir uns einig, dass wir keinen Wettbewerb zwischen den Kantonalkirchen wollen. Wir wollen andere Kantonalkirchen nicht überbieten, indem wir auf eigene Faust die Anforderungen ans Pfarramt senken. Die Synode hat sich dem schliesslich angeschlossen, indem sie die Motion abgelehnt hat. Stattdessen setzen wir auf die Zusammenarbeit mit dem Konkordat für die Ausbildung von Pfarrpersonen.
Was unternimmt man dort, um dem Pfarrmangel zu begegnen?
Derzeit laufen Bestrebungen, ein Bachelorstudium für das Pfarramt zu ermöglichen. Man überlegt sich also, ob und wie Studierende bereits im Rahmen eines Bachelorstudiums die Grundfähigkeiten für das Pfarramt erwerben können. Daneben erwägt man den Zugang von diakonisch ausgebildeten Personen zum Pfarramt.
Im Thurgau und in anderen Kantonalkirchen ist man auch dabei, vermehrt Laienpredigende einzusetzen. Muss man künftig Abstriche bei der Qualität der Gottesdienste machen?
Eine Gegenfrage: Wie bemisst man die Qualität eines Gottesdienstes? Es stimmt, dass Laienpredigende in der Regel nicht über die exegetischen Fähigkeiten einer Pfarrperson verfügen. Sie haben aber einen frischen Blick auf die Bibel und können eine Perspektive einbringen, die Gottesdienstbesucher sonst nicht zu hören bekommen. Die Idee ist auch nicht, dass nur noch Laienpredigende zum Einsatz kommen. An einer theologisch fundierten Auslegung von Bibeltexten durch die Pfarrperson wollen wir festhalten.
Zunehmend als alter Zopf erscheint der sonntägliche Gottesdienst. Kann man sich den in Zeiten des Pfarrmangels überhaupt noch leisten?
Momentan ist der Gottesdienst am Sonntag bei uns noch in der Kirchenordnung verankert. In der neuen Legislatur wollen wir vermehrt Kooperationen fördern, damit Kirchgemeinden Gottesdienste zusammen feiern können. Daneben finde ich wichtig, dass wir experimentieren. Wenn es in einer Gemeinde viele Jugendliche gibt, kann es sinnvoll sein, über Alternativen zum Sonntagsgottesdienst nachzudenken. Wir haben in Frauenfeld zum Beispiel das Lighthouse 27. Dort treffen sich die Jugendlichen jeden zweiten Freitagabend, um gemeinsam zu feiern. Es ist jedesmal knallvoll.
Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie, um dem Pfarrmangel entgegenzuwirken?
In der Synode haben wir gerade beschlossen, dass der Konfirmationsunterricht künftig auch von Jugendarbeiterinnen oder Katecheten geleitet werden kann. Auch für ordinierte Diakoninnen sehe ich mehr Möglichkeiten als bisher. Warum sollten sie zum Beispiel nicht auch Abendmahl oder Taufe durchführen? Das müssen wir allerdings noch diskutieren.
Wird die Pfarrerin also enbehrlich?
Nein, sie wird nicht entbehrlich. Aber wir müssen uns grundsätzlich überlegen, welche Aufgaben ausschliesslich von Pfarrpersonen geleistet werden können, weil es dafür ein Theologiestudium braucht, und für welche Aufgaben genau so gut andere Berufsgruppen in Frage kommen. Momentan kreisen wir noch sehr um die Pfarrperson. In Zukunft wird es vermehrt darum gehen, Interprofessionalität in den Kirchgemeinden zu fördern. Wir sollten den Pfarrmangel als Chance sehen, Kirche neu zu denken.
Quelle: www.ref.ch, 15. Juli 2024, Interview von Heimito Nollé