Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) will eine Studie zu möglichen Missbrauchsfällen im reformierten Kontext durchführen lassen. Das ist seit Ende des vergangenen Jahres bekannt. Nun ist klar, wie die Details aussehen könnten. Die EKS will das Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik der Universität Luzern mit einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung beauftragen. Unter der Leitung der Hochschule soll das Meinungsforschungsinstitut Demoscope 20'000 Personen befragen. Das Projekt trägt den Arbeitstitel «Dunkelfeldstudie zu sexuellem Missbrauch», wie aus den Unterlagen zur EKS-Sommersynode in Neuchâtel hervorgeht, die online abrufbar sind. Die Studie kostet voraussichtlich 1,6 Millionen Franken. Das Geld soll vollständig von der EKS kommen. Die EKS-Synodalen müssen die Durchführung der Studie und die Ausgaben bewilligen. Resultate sollen Ende 2027 vorliegen, wie EKS-Präsidentin Rita Famos zuvor in einem in der «NZZ am Sonntag» publizierten Interview publik machte. Famos hofft, dass die Resultate auch anderen Institutionen helfen, gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen. Es gehe auch um Missbrauch in den Familien, Sportverbänden und Schulen. «Es kann nicht sein, dass man sich zurücklehnt und auf Sündenböcke wie zum Beispiel die katholische Kirche zeigt», sagte Famos im Interview. Missbrauch sei ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die EKS wolle einen Beitrag leisten, dass Täterprofile und Tatkontexte eruiert werden können. «Damit Täter nicht einfach durchmarschieren können.» Eine separate Umfrage soll die Betroffenen im reformierten Umfeld ansprechen. «Wir wollen wissen: Wo und wie geschahen die Übergriffe, und was hat die Aufdeckung der Taten verhindert.»
Lange die Augen verschlossen
Seit Anfang Jahr höre sie fast wöchentlich Geschichten von Betroffenen, sagte Famos. «Es sind gravierende Fälle, da sprechen wir von Vergewaltigung und Nötigung.» Die Betroffenen würden ihre Erlebnisse erzählen, weil sie zeigen wollten, dass auch die reformierte Kirche ein Problem mit Übergriffen habe. «In der reformierten Kirche hatten wir lange das Gefühl, dass uns das Thema nicht stärker betrifft als den Rest der Gesellschaft», sagte Famos. Die Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) habe der EKS die Augen geöffnet. Die im Januar veröffentlichte Untersuchung zu sexualisierter Gewalt dokumentierte für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1259 Beschuldigte. Im Gegensatz zur Studie der EKD will die EKS nicht Akten durchleuchten, sondern eine Umfrage durchführen. Grund dafür sei der föderalistische Aufbau der reformierten Kirche in der Schweiz, sagte Famos. Eine Aufarbeitung von Akten wäre viel komplexer. «Wir wollen das Dunkelfeld ausleuchten. Das Wissen der Betroffenen ist entscheidend. Sie sind unsere Experten.»
Spiritueller Missbrauch möglich
Im Gegensatz zur katholischen Kirche lebe die reformierte nicht von einer institutionellen Macht, sagte Famos im Interview weiter. «Bei uns geht es vielmehr um Überzeugung und Charisma. Unsere Amtspersonen sind oft gut gebildet, sprachlich sehr gewandt und haben eine starke Überzeugungskraft.» Als Seelsorger bauten sie ein tiefes Vertrauensverhältnis auf und hätten einen Vertrauensvorsprung. «Das kann missbraucht werden.» Ein Täter mit Charisma werde zudem von den kirchlichen Milizbehörden weniger hinterfragt und seltener gestoppt. Dabei könne es auch zu spirituellem Missbrauch kommen. Dieser stehe oft am Anfang sexuellen Missbrauchs, sagte Famos. «Zuerst missbraucht der Täter den Glauben und das Vertrauen einer Person in die Kirche und sein Amt. Dadurch nähert er sich dem Opfer auch körperlich an.» Später missbrauche er diese Nähe. «Wir müssen die Fragestellung unserer Studie deshalb weit fassen.»
Quelle: www.ref.ch, 28.04.2024